Schwester Heidemarie erzählt, wie sie Schwester wurde

Ein einmaliger Morgen

Es war kurz nach sieben Uhr als ich die Haustür hinter mir zuzog. Ich eilte die Poststraße hinauf, an deren Ende meine Freundin schon winkte. Wir fingen an, zum Bahnhof zu laufen, denn der Zug, der uns nach Heidelberg bringen sollte, war schon zu hören. So war es jeden Schultagmorgen. Wir sprangen lachend in letzter Minute in ein Abteil. Doch an diesem Morgen konnten wir nicht nebeneinander sitzen. Bis zum Hauptbahnhof waren es nur 2 Stationen.

Schau hin!

Ich lehnte mich zurück. Doch dann fiel mein Blick auf die Menschen um mich her. So hatte ich meine Umgebung noch nie wahrgenommen. Wie müde, traurig und erschöpft alle aussahen. Dabei hatte doch der Tag erst begonnen.

Dann war es, als würde eine innere Stimme zu mir sagen: Siehst du diese müden und matten Menschen? Wer sagt ihnen das, was du vor einem halben Jahr begriffen hast? Dass man mit mir, mit dem auferstandenen Gottessohn, Freude und Kraft für jeden Tag finden kann?

Du bist dabei, deine Pläne zu realisieren ohne mich zu fragen, was meine Pläne für dich und dein Leben sind.

Es stimmte. Ich stand kurz vor dem Abschluss meiner Mittleren Reife auf der Höheren Handelsschule. Ich hätte aufs Wirtschaftsgymnasium wechseln und dort Abitur machen können. Aber der Gedanke an Buchhaltung, Betriebswirtschaftslehre usw. begeisterte mich nicht. Ich wollte lieber vormittags arbeiten und etwas Geld verdienen und in der Abendschule das Abitur machen, um anschließend Deutsch, Geschichte und Archäologie zu studieren. Doch merkwürdiger Weise fand ich keine Halbtagsstelle.

Quelle: Timon Studler auf Unsplash

Entscheide dich!

Und nun saß ich in diesem Zug, sah diese bleichen Menschen um mich herum und hörte auf die Fragen, die Gottes Geist mir stellte. Dann betete ich in meinem Herzen: „Herr Jesus, ich will tun, wofür Du mich einsetzen willst. Wenn ich ein Angebot für eine Halbtagsstelle bekomme, nehme ich an, dass das für dich mit der Abendschule okay ist. Wenn ich eine Ganztagsstelle angeboten bekomme, gehe ich mit 18 (das war das Mindestalter) auf die Bibelschule nach Aidlingen und werde Diakonisse. Dann kannst Du ganz über mich verfügen und mich einsetzen, wo Du willst.“ Das waren so ungefähr meine Worte, die ich betete.

Inzwischen waren wir ausgestiegen und liefen eilig Richtung Schule. Kein Mensch hatte von meinem geheimen Zug-Gebet etwas mitbekommen.

Als ich am frühen Nachmittag wieder nach Hause kam, lag ein Brief für mich auf dem Küchentisch. Eine Firma in der Umgebung lud mich zu einem Vorstellungsgespräch ein – für eine Ganztagsstelle als kaufmännische Angestellte. Ich ging hin und wurde eingestellt mit einem – für meine Begriffe – fantastischen Monatsgehalt.

Dann betete ich in meinem Herzen:
„Herr Jesus, ich will tun, wofür Du mich einsetzen willst."

Ein handfeste Überraschung

Ein Jahr später bewarb ich mich bei der Bibelschule in Aidlingen. Doch dann geschah noch etwas Unerwartetes:

Meine Freundin und ich waren in der örtlichen Gemeindejugend stark engagiert. Unser Dekan hatte erfahren, dass ich mich bei einer Bibelschule beworben hatte. Er bat mich zu einem Gespräch und eröffnete mir, dass der Kirchengemeinderat mir die Stelle einer Gemeindehelferin anbietet zum gleichen Gehalt, das ich bisher bekomme. Ich war sprachlos. Dann stotterte ich, dass ich das doch nicht gelernt habe und die Mädels vom Mädchenkreis teilweise sogar älter sind als ich. Der Dekan meinte in seiner trockenen Art, dass zu jung sein ein Schönheitsfehler sei, der sich von Tag zu Tag von alleine bessert. Außerdem trauen mir alle Verantwortlichen zu, dass ich für die Gemeindejugend gute Impulse entwickeln könnte.

Und so kam es, dass ich noch über ein Jahr Erfahrungen in der Gemeinde-Arbeit und auf dem Pfarrbüro machen konnte. Ich begann zu begreifen, dass es gut ist, die Regie über mein Leben meinem Schöpfer zu überlassen und meinem Herrn zu vertrauen, dass er es gut macht.

Und ich bekam eine Ahnung davon, was damit gemeint ist, wenn Gott den Abraham aus seinem Land, seiner Stadt und seinem Freundeskreis in Bewegung setzt in ein unbekanntes Land.

Eine heiße Lebensfahrt

Ich bin tatsächlich mit 18 Jahren aufgebrochen in ein mir unbekanntes Glaubens- und Dienstland, in eine Gemeinschaft, die mir noch fremd war. Heute, nach mehr als 60 Jahren, kann ich sagen, hinter mir liegt eine heiße Lebensfahrt mit starken Eindrücken, guten Erfolgen, frohen Begegnungen. Dabei ging nicht alles glatt. Ich musste Hindernisse überwinden, Enttäuschungen verkraften, Schwierigkeiten durchstehen – es war sozusagen der ganz normale Wahnsinn eines bunten Lebens in der Nachfolge Jesu: Routine und Resignation, neue Anfänge und alte Gewohnheiten, Mutlosigkeit und begeisternde Möglichkeiten wechselten einander ab.

In allem hielt mich Jesus fest, entzündete meine Liebe zu ihm immer neu und stabilisierte mich durch sein Wort. Ich vertraue darauf, dass ich bis zum Ende meines Lebens die Freude an dieser lebendigen Hoffnung nicht verliere.